Schottland stimmt ab – Europa muss neue Antworten finden
Aus dem aktuellen kostenlosen Newsletter
“Wirtschaft-vertraulich”:
Liebe Leser,
es ist eigentlich zweitrangig, ob Sie meinen Newsletter „Wirtschaft vertraulich“ regelmäßig eher unter der Perspektive eines Anlegers, Unternehmers oder einfach interessierten Bürgers lesen. Tatsache ist: Der heutige Tag dürfte für Europa und Europas Bürger wohl einer der wichtigsten seit der deutschen Wiedervereinigung werden.
Rund 5,3 Mio. Schotten sind aufgerufen, für oder gegen die Unabhängigkeit und damit Loslösung vom Vereinigten Königreich Großbritannien zu stimmen. Damit würde – wenn die Befürworter der Unabhängigkeit gewinnen – eine mehr als 300 Jahre andauernde gemeinsame politische Union mit England enden.
Auch, wenn die Gegner einer Unabhängigkeit in den letzten Tagen wieder eine knappe Mehrheit in den Umfragen aufweisen konnten, so wird Europa nach der Abstimmung nicht mehr dasselbe sein können. Ein schlichtes Zurück zur Tagesordnung ist kaum vorstellbar.
Die EU hat Angst, dass das Beispiel Schottland Schule macht
Denn Sie müssen sich einmal vor Augen führen: Schottland bestimmt zwar die aktuellen Schlagzeilen, ist aber nur am weitesten mit seinen innereuropäischen Unabhängigkeitsbemühungen. Letztlich gilt es auch als Blaupause für andere europäische Regionen, die sich von den jeweiligen Zentralregierungen lösen wollen.
Und die EU wird sich der Frage stellen müssen, wie sie darauf reagieren will. Nimmt sie die europäische Idee ernst, wird sie auch mit den Unabhängigkeitsbewegungen klar kommen müssen. Zumal diese in der Regel nicht unbedingt als EU-feindlich gelten. In diesem Zusammenhang ist es schon jetzt unverständlich, dass von Seiten der EU-Kommission Äußerungen kamen, die eine mögliche EU-Mitgliedschaft Schottlands nur nach längerer Prüfung für möglich halten.
Aus dieser Konstellation könnte es zum Treppenwitz der Geschichte werden, dass einem unabhängigen Schottland möglicherweise auf absehbare Zeit die EU-Mitgliedschaft verweigert wird, die Schotten aber 2017 bei einem negativen Ergebnis des EU-Referendums in ganz Großbritannien mit aus der EU ausscheiden müssen. Aber das haben die EU-Granden derzeit nicht auf dem Schirm. Für sie ist wohl aktuell wichtiger, einen Präzedenzfall in Europa zu verhindern.
Neue gesellschaftliche Debatten werden auf Ihr Privatleben Einfluss haben
Egal, wie die Abstimmung heute ausgeht: Die Europäische Politik und auch Wirtschaft werden sich in Zukunft mit regionalen Forderungen nach mehr Autonomie oder Unabhängigkeit auseinandersetzen müssen.
Ich formuliere es so: Das Pendel der bisher auf weiten Strecken von oben verordneten europäischen Integration schwingt langsam wieder in die andere Richtung. Dies wird eine Nagelprobe, wie weit es mit dem immer wieder auf Festreden angeführten Selbstbestimmungsrecht der Völker her ist oder ob in dieser Frage in Westeuropa dann doch andere Maßstäbe gelten als z. B. in Osteuropa.
Stellen Sie sich darauf ein, dass daraus auch turbulente gesellschaftliche Debatten entstehen werden, die bis in Ihren Privatbereich hineinreichen. Das wird auf längere Sicht auch Ihre Vermögensplanung betreffen, die Sie wohl zukünftig zumindest in signifikanten Teilen konservativer, also risikoärmer ausrichten sollten.
Mit besten Grüßen
Carsten Müller
Chefredakteur: „Wirtschaft-vertraulich“ und „www.deutscher-wirtschaftsbrief.de“
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